Die Initiative für Gewerbevielfalt setzt sich
für eine differenzierte Gewerbestruktur in
Deutschlands Städten und Gemeinden ein.
Wer heute im Handel erfolgreich sein will, kommt an digitalen Lösungen nicht vorbei. Erst recht nicht seit der Pandemie, die digitale Vertriebswege für viele kleine und mittelständische Unternehmen zur existenziellen Notwendigkeit gemacht hat. Allerdings sehen weniger als ein Fünftel der KMU Bedarf, digitale Möglichkeiten wie regionale Online-Marktplätze, Social-Media-Werbung oder kommunale Angebot-Apps zu nutzen. Das zeigt eine fortlaufende Repräsentativ-Befragung der „Initiative für Gewerbevielfalt powered by Das Telefonbuch“, die das Marktforschungsinstitut CIVEY seit April durchführt.
Im Interview schildert Snorri Sigurdsson, CEO der Digital/m GmbH, die die smaRT city App für die Stadt Reutlingen entwickelt hat, sowie Frau Patricia Schüle (auch CEO von Digital/m), welche Chancen die digitale Vernetzung von Stadt, Händlern und Verbrauchern bietet.
Lieber Frau Schüle, lieber Herr Sigurdsson, wie genau unterstützt Ihre App lokale Händler, Dienstleister und Betriebe?
Schüle/ Sigurdsson: Die smaRT city App Reutlingen ist eine Mobile App, die helfen soll, den Besuch in der Innenstadt von Reutlingen so angenehm wie möglich zu machen. Das beginnt bei der “Anfahrt”. Ein interaktiver Busfahrplan kann per „Augmented Reality“ erkundet werden. Auch die aktuelle Parkhausbelegung sowie eine Karte mit allen E-Ladeplätzen in Reutlingen werden in der App angezeigt. Das Herzstück der mobilen Anwendung sind jedoch die Marketingmöglichkeiten für Händler, Gastronomen und Dienstleister. Dazu gehören Angebote und Aktionen, die in der App geschaltet werden können, Location-Based Marketing, Coupons und Loyalty Kampagnen. Daneben bietet die App einen Eventkalender, ein Kinoprogramm und eine Übersicht der kulturellen Einrichtungen.
Wie nehmen Sie die Situation bei Händlern und Verbrauchern derzeit wahr?
Schüle/ Sigurdsson: Die Krise hat alle hart getroffen, je nach Branche unterschiedlich stark. Im Lockdown natürlich besonders die Gastronomie und die Bekleidungsgeschäfte. Bei den Verbrauchern ist die Stimmung gedämpft. Es sind zwar wieder viele Menschen in der Stadt, allerdings werden eher Cafés und Restaurants besucht, sofern sie eine Terrasse haben. Die Menschen halten sich lieber draußen auf als in geschlossenen Räumen. Kleidung wird aus Angst vor Ansteckung derzeit nicht gerne anprobiert. Die meisten beschränken sich beim Einkaufen immer noch auf das Notwendige. Die Kommunikation mit Maske macht das Verkaufsgespräch und die Beratung schwieriger. Auch der Spaßfaktor beim Einkaufen mit Maske leidet erheblich.
Was würden Sie sagen: Corona – „Game-Changer“ oder Katalysator für bestehende Probleme?
Schüle/ Sigurdsson: Auf jeden Fall beides. Viele Probleme, die jetzt auftreten, gab es schon vorher. Dazu gehört nicht nur der Weggang vieler Kunden zum Online-Handel. Auch die mangelhafte Städteplanung, was den Verkehr, Parkmöglichkeiten und das örtliche Angebot an Geschäften angeht, spielt dabei eine Rolle. Hinzu kommt, dass viele Hilfsaktionen nicht gut genug greifen.
Nehmen Sie das Beispiel von städtischen Veranstaltungen. Attraktionen, Events und verkaufsoffene Sonntage sollen Besucher in die Innenstadt locken. Das funktioniert oft in der Hinsicht, dass die Leute tatsächlich in die Stadt kommen, bummeln und vielleicht etwas essen. Im Umsatz des Einzelhandels schlägt sich das jedoch nicht spürbar nieder. Viele Einzelhändler nehmen darum an solchen Aktionstagen gar nicht mehr Teil.
Schließlich werden Appelle und Kampagnen, dass der lokale Handel unterstützt werden muss, ohne Resultat verhallen, wenn Angebot und Service seitens der Händler nicht vorhanden sind, bzw. nicht den Kundenbedürfnissen entsprechen. Es gibt aber auch viele innovative Konzepte und Händler die das Problem erkannt haben und die sich wirklich bemühen dem Kunden ein tolles Einkaufserlebnis zu bieten.
Stichwort neue Herausforderungen und Chancen: Wachen Einzelhändler langsam aus ihrem Dornröschenschlaf auf?
Schüle/ Sigurdsson: Das ist eine gute Frage, die wir leider nicht beantworten können. Wenn der Einzelhandel seine Probleme endlich realisiert, anstatt die Ursachen immer wo anders zu suchen, besteht durchaus Hoffnung.
Schließlich ist der Erfolg des Onlinehandels nicht nur ein Grund, sondern vielmehr ein Symptom für die Krise im stationären Einzelhandel. Zu viele Händler denken leider immer noch, dass es reicht, “morgens die Tür aufzuschließen und da zu sein“. Zudem kommt, dass es in vielen Fachgeschäften an guter Beratungsqualität mangelt. Das führt zu Enttäuschung bei Kunden. Ein guter Online-Shop bietet dagegen eine Vielzahl an Hintergrundinformationen, vielleicht noch einen Blog und Anwendungstipps. Das ist ein ganz anderes Einkaufserlebnis.
Und genau hier müssen Händler ansetzen. Ein Lieferservice hilft Kunden, die ihre Einkäufe nicht selbst nach Hause tragen können. Ein entsprechendes Online-Angebot bietet aktuelle Informationen über das Sortiment. Schließlich gehen heute viele Kunden gezielt einkaufen. Das heißt nicht, dass ein Online-Shop ein Muss ist. Eine ansprechend und übersichtlich gestaltete Informationsseite, die Kunden einen Überblick über das Angebot, Lage und Öffnungszeiten verschafft, reicht aus. Ganz wichtig: die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit dem Händler.
Was kann Ihre App leisten? Wer nutzt sie und wie ist die Resonanz seitens der Anbieter und Verbraucher?
Schüle/ Sigurdsson: In der Phase nach und mit Corona hilft die App Kunden vorab über Angebote und Aktionen zu informieren. Das erleichtert und verschönert das zielgerichtete Einkaufen. Zeitlich gesteuerte Angebote helfen dabei, die Auslastung besser zu regulieren. Produktinformationen über Beacons ermöglichen es, etwas über Produkte zu erfahren, ohne sie anfassen zu müssen. Coupons motivieren Kunden dazu, lokal einzukaufen. Mit Geo-Fencing können Händler, die die App nutzen, Kunden bereits in einigen hundert Metern Entfernung zum Laden, über Auslastung, Corona-Regeln oder neue Angebote informieren.
Genutzt wird die App von Anwohner aller Altersgruppen im Großraum Reutlingen. Unter Händlern, Dienstleistern und Gastronomen zählen wir aktuell rund 200 registrierte Anbieter. Die Downloadzahlen liegen im 5-stelligen Bereich.
Was kommt langfristig auf das Lokalgewerbe und den Einzelhandel zu?
Schüle/ Sigurdsson: Die Probleme werden nicht verschwinden, im Gegenteil. Hier ist allerdings nicht nur der Einzelhandel gefragt, sondern auch die Städteplanung. Wenn Innenstädte mit Filialen zahlreicher Großhändler immer eintöniger werden, schadet das der Attraktivität für Besucher und Kunden. Wieso sollten sie lokal einkaufen, wenn es kein besonderes und individuelles Angebot mehr vor Ort gibt – insbesondere dann, wenn der Zugang zum örtlichen Handel durch eine schlechte Infrastruktur erschwert wird?
Über uns:
Die Initiative für Gewerbevielfalt setzt sich für den lokalen Einzelhandel und inhabergeführte Kleingewerbe in Deutschlands Städten und Gemeinden ein.
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